Oberhausen, 29.03.2020
Liebe Freundinnen und Freunde von Kinder in Rio,
wie Sie wahrscheinlich auch, bin ich gerade in einer Gefühlslage, die sich irgendwo zwischen positiver Entschleunigung, akuter Sorge - und mit Blick auf Brasilien zugegebenermaßen auch Fassungslosigkeit bewegt. Das Corona-Virus hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Von jetzt auf gleich war alles anders und nichts mehr selbstverständlich: Unsere Gesundheit, der Kontakt zu Freunden und Familie, der Weg zur Arbeit oder die Geburtstagsfeier. Plötzlich sorgen wir uns tagtäglich um unsere Lieben, erleben ungewohnte Momente der Einsamkeit, gehen mit einem merkwürdigen Gefühl vor die Tür und wissen nicht so recht, was die Zukunft uns bringen wird.
Was ich in diesen Tagen jedoch auch besonders merke, ist, wie wichtig die Unterstützung anderer ist, wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind - emotional, aber auch rein praktisch. Lassen Sie uns daher gerade jetzt auch diejenigen nicht vergessen, die diese Krise noch ganz anders treffen wird, als uns hier in Deutschland. Ganz anders als wir es uns vorstellen können - und wollen: All die Familien und Kinder in den Armenvierteln von Rio de Janeiro.
Denn diese Familien haben in der Regel weder fließendes Wasser noch Seife oder gar Desinfektionsmittel. Ganz zu schweigen von der Perspektive, als Favela-Bewohner jemals eines von den ohnehin nur 22.000 staatlichen Intensivbetten in ganz Brasilien zu bekommen. Dabei wissen wir alle, dass die Ansteckungsgefahr und damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Virus schnell ausbreiten wird, in den Favelas um ein Vielfaches höher ist als bei uns, da die Menschen auf engstem Raum leben. Wie soll eine sechsköpfige Familie, die samt Großeltern in einem einzigen Raum lebt, den ganzen Tag zu Hause verbringen?
Die Perspektive für Brasilien und auch für die Mega-Stadt Rio de Janeiro sieht dramatisch aus. Wenn ich daran denke, wie sich das Leben dieser wunderschönen Stadt mit all den lieb gewonnenen Menschen in einen zu unseren Lebzeiten niemals dagesessen Albtraum verwandeln könnte, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
Anstatt die Bevölkerung in dieser dramatischen Lage zu unterstützen, wollte Bolsonaro den Arbeitgebern ermöglichen, Arbeit und Gehalt für vier Monate auszusetzen. Darüber hinaus war sein Plan, 158.000 Familien die Sozialhilfe „Bolsa Familia“ zu streichen. Hier konnte die Opposition erfolgreich gegensteuern. Trotzdem werden über 30 Millionen neue Arbeitslose wegen der Corona-Welle vor allem in einkommensschwachen Gruppen erwartet. Insbesondere Tagelöhner wie Straßenverkäufer und Hausangestellte sind von Kontaktsperren und Quarantäne betroffen. Was wird aus ihnen ohne Ersparnisse, ohne staatliche Hilfen? Wovon sollen sie leben?
Zu Recht kann man über diese Verantwortungslosigkeit wütend sein. Doch Wut bringt uns in dieser Situation nicht weiter. Unsere Vereinsvorsitzende Sonja Kienzle ist fast täglich mit unseren Partnern in Brasilien in Kontakt. Aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen, die der Gouverneur von Rio glücklicherweise umgesetzt hat, sind unsere Betreuungsangebote derzeit leider geschlossen. Die Gesundheit der uns anvertrauten Menschen geht vor. Umso mehr sind all unsere Fachkräfte aber im Einzelkontakt für die Familien da. Wir klären die Menschen über den Ernst der Lage auf, versorgen sie mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln, liefern Lernmaterialien, führen Online-Workshops durch und haben ein offenes Ohr für ihre Sorgen.
Ich fürchte, Brasilien hat noch nie vor einer größeren Herausforderung gestanden, die die Armen besonders hart treffen wird. Helfen Sie uns dabei, die Familien in dieser kommenden Krise nicht alleine zu lassen!
Bleiben Sie gesund!
Ich sende Ihnen herzliche Grüße und wünsche Ihnen, dass Sie die Ostertage in diesem Jahr vielleicht in anderer, aber auch in schöner Weise begehen können!
Ihre Mareille Landau
Vorstandsmitglied von Kinder in Rio e.V.
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