Oberhausen, September 2019
Liebe Spenderinnen und Spender,
ich möchte Ihnen heute von einem Projekt erzählen, das ich vor vielen Jahren in mein Herz geschlossen und seitdem unzählige Male besucht habe. Vor einigen Wochen erreichte mich dann plötzlich die erschreckende Nachricht, dass das Projekt vor dem Aus steht, weil die Stadtverwaltung von einem auf den anderen Monat die staatlichen Mittel gestrichen hat. Einer der düsteren Vorboten dessen, was die Bolsonaro-Regierung für Brasilien wohl noch so alles bringen wird.
Aber jetzt erst einmal zurück zum Anfang, als ich als junger Theologiestudent ein halbes Jahr in Rio de Janeiro verbrachte... Gemeinsam mit Bekannten fuhr ich eines Tages im Stadtteil „Rio Comprido“ in einem VW-Bulli eine steile holprige Straße hinauf in die Favela „Sumaré“ zu einem Musikprojekt für Kinder und Jugendliche. Ich war sehr gespannt, weil ich selbst sehr gerne Musik mache.
Im Gemeinschaftszentrum trafen wir auf Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren, die alle in dieser Favela leben. Jeder von ihnen hielt eine Gitarre auf den Knien und erarbeitete unter geduldiger Anleitung des Musikers und Projektleiters Luiz eine Samba.
Immer wieder korrigierte Luiz einzelne Töne mit einem kleinen Scherz auf den Lippen und gleichzeitig mit großer Ernsthaftigkeit für die Musik und für die jungen Menschen. Die Jugendlichen waren alle sehr konzentriert bei der Sache und mit jedem Hinweis wurde der Klang ein wenig besser.
Ich fand es sehr bewegend zu sehen, wie die Jugendlichen an ihrem Instrument Haltung annahmen und plötzlich ein ganzes Stück zu wachsen schienen, wenn es gut klang – und gleich noch mehr, wenn es Applaus gab.
Mit dieser Begegnung begann meine Begeisterung und Unterstützung für das Projekt „Som das Comunidades“ (Klang der Gemeinschaften) und eine inzwischen 20 Jahre währende Freundschaft mit Luiz und Nyeta, zwei wunderbar warmherzigen Menschen, die in Rio dieses und andere großartige Projekte für Kinder und Jugendliche organisieren.
Mir ist damals schnell klar geworden, dass dieses Projekt viel mehr bewirkt, als das Erlernen eines Instruments. Die Musik gehört zum kulturellen Erbe, das so ganz niedrigschwellig an Kinder vermittelt wird, die insgesamt eher bildungsfern in den Favelas aufwachsen. Die von der restlichen Gesellschaft diskriminiert werden und vielfach das Gefühl haben, dass sie weniger wert sind, nicht wirklich etwas können.
Doch bei „Som das Comunidades“ machen genau diese Kinder die Erfahrung, dass sie sehr wohl etwas können. Und zwar etwas, was nicht jeder kann und was anderen und ihnen selbst Freude macht: Musik. Hier erfahren sie häufig das erste Mal in ihrem Leben, dass ihnen jemand etwas zutraut, sie als wertvolle individuelle Persönlichkeiten wahrnimmt und an sie glaubt.
Darin steckt natürlich auch die Botschaft, dass es Alternativen gibt zu Kriminalität und Drogenbanden. Denn gerade die Jugendlichen aus den Favelas sind extrem gefährdet in die Bandenkriminalität hineingezogen zu werden. Vielen erscheint der Drogenhandel als Ausweg aus der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit und als einzig realistische Verdienstmöglichkeit. Denn viele der jungen Menschen stehen schon unter dem Druck Geld verdienen zu müssen, um die Familie durchzubringen.
Um diesen Kindern und Jugendlichen Perspektiven zu bieten, hat „Kinder in Rio“ nicht nur dieses Projekt, sondern ganz unterschiedliche Angebote, die ich in den vergangenen Jahren ebenfalls kennen lernen durfte ins Leben gerufen. Nämlich Kinder- und Jugendzentren, in denen die Kinder eine Alternative zur Straße und ein emotionales Zuhause finden. Sie erlernen Selbstwertgefühl, Teamgeist und Respekt für andere. Eben mit Musik oder Sport und mit Hausaufgabenbetreuung und Förderunterricht, was ihnen hilft, die Schule abzuschließen.
Sie können sich vielleicht vorstellen, wie geschockt ich war, als mich vor einigen Wochen plötzlich die Nachricht erreichte, dass die städtische Förderung des Projektes „Som das Comunidades“ komplett gestrichen worden ist. Luiz und Nyeta waren am Boden zerstört. Wie sollten sie das all den Kindern erklären, die auf sie zählen und sich jede Woche auf den Musikunterricht freuen, Halt bei ihnen finden?
Durch Freunde, Familie und Bekannte haben wir es gemeinsam mit „Kinder in Rio“ geschafft, das Projekt bis Ende des Jahres über Wasser zu halten. Doch was danach passiert, ist noch ungewiss.
Die spontane Streichung der Finanzierung ist vermutlich nur der Anfang dessen, was noch weiteres von der Regierung Bolsonaro zu erwarten ist. Der seit Anfang des Jahres amtierende Präsident hat die staatlichen Förderungen im Bereich Bildung, Kultur und Soziales extrem gekürzt. Zusätzlich werden Menschenrechtler, Umweltschützer und Bürger, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, massiv verfolgt. Das Beispiel von Luiz und Nyeta und ihrem Projekt ist leider nur eines von vielen.
Liebe Spenderinnen und Spender, es ist der große Wunsch von „Kinder in Rio“ und auch mein Wunsch, den Kindern und Jugendlichen in den Jugendzentren auch weiterhin Halt, Perspektive und Selbstwertgefühl zu schenken. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch Sie dabei mithelfen!
Matthias Feldmann
langjähriger Unterstützer von „Kinder in Rio“
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